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Claus Mewes: Eröffnungsrede delikatelinie Ermkeilkaserne Bonn

Naho Kawabe ist 1976 in der südwest-japanischen Hafenstadt Fukuoka geboren und dort aufgewachsen. Die 1,5 Millionen Einwohner zählende Großstadt liegt auf der südlichsten Hauptinsel Japans an einer Meeresdurchfahrt direkt gegenüber von Südkorea. Berühmt geworden ist dieses Grenzgebiet durch mehrere historische Seeschlachten, insbesondere durch den Sieg einer kleinen japanischen Flotte gegen die zahlenmäßig überlegenen russischen Seestreitkräfte in der sogenannten Koreastraße bei Tsushima 1905. Der außereuropäischen Welt gilt dieses Ereignis bis heute als Impulsgeber eines neuen Selbstbewusstseins, mit dem sich die Länder Asiens und Afrikas im Lauf des 20. Jahrhunderts aus den kolonialen Fesseln der westlichen Mächte befreiten (vgl. Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires, 2013). Fukuoka geriet 1945 im zweiten Weltkrieg wieder ins Rampenlicht der Geschichte als Angriffsziel der US-Amerikaner, deren Plan, im August des Jahres ihre zweite Atombombe auf diese Stadt zu werfen, nur schlechtes Wetter verhinderte. Heute ist Fukuoka beliebtes Einkaufsziel der mit Fähren und Flugzeugen über das Meer kommenden koreanischen und chinesischen Touristenströme.Von 1996 bis 1999 wohnte Kawabe in Tokio und studierte dort an der Musashino Art University freie Kunst und Medienwissenschaften. Mit ihrem Wechsel nach Deutschland 2001, zunächst nach Bremen, dann nach Hamburg, nahm sie hier, ausgestattet durch ein DAAD-Stipendium, an der Hochschule für bildende Künste ein Studium bei dem Fluxus-Künstler und Professor Claus Böhmler auf und schloss es 2006 erfolgreich ab. Sie arbeitet seitdem als freie Künstlerin in Hamburg mit steigenden Ausstellungsaktivitäten in Deutschland und in Japan.

Die Erfahrungen des Pendelns zwischen asiatischer und europäischer Kultur sind ein übergreifender Aspekt der künstlerischen Arbeit von Naho Kawabe. Die hier in sieben Räumen von ihr präsentierten Werke sind exemplarisch für ein ästhetisches Programm, das sich zum einen bezieht auf die in Schwarz-Weiß gefasste abstrakte Ästhetik japanischer Kultur, zum anderen auf die erzählende Tradition der europäischen Kunst und ihren neueren Formen zwischen Installation, Fotografie und Video. In diesem Feld nutzt Kawabe die Qualitäten bestimmter selbst gewählter Materialien wie etwa Kohle und deren antithetischem Pendant: Licht.

Das Material Kohle, in der verwendeten symbolischen Form von Holzkohle, ist seit Jahren Markenzeichen der Bodenobjekte von Kawabe zwischen minimalistischer Strenge und Figuration. Dabei ist die Kohle selbst schon Bedeutungsträger mit besonderen ästhetischen Eigenschaften und gesellschaftlichen Implikationen. Kohle ist ein Rohstoff, der eine lange Geschichte hat – von der traditionellen künstlerischer Verwendung als Zeichenstift bis zum Einsatz für Objekte der Arte-Povera-Künstler, etwa Jannis Kounellis (vgl. Monika Wagner: Das Material der Kunst, 2001, S. 244ff). Historisch ist Kohle die wesentliche Energie, auf welcher einerseits der industriebürgerliche Reichtum basiert und mit der andererseits soziale und ökologische Tragödien ausgelöst worden sind. Deren Spanne reicht von den Ereignissen in den Grubenrevieren Colorados, 1913/17 festgehalten von Upton Sinclair in seinem berühmten Romandrama “König Kohle”, in dem der menschenunwürdige Abbau der fossilen Natur zum Symbol für Ausbeutung und Rassismus wird, bis zum Kohle-Kolonialismus unserer Zeit oder den aktuellen Auseinandersetzungen um den CO2-Ausstoß auf diversen Klimakonferenzen. Als Naho Kawabe geboren wird und in Fukuoka zur Schule geht, am Ende der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, gerät in Japan und Europa die Kohle-Industrie in die Krise. Die japanische Regierung setzt seitdem ausschließlich auf Atomenergie, mit allen Folgen bis hin zur Katastrophe in Fukushima 2011, die Kawabe unmittelbar miterlebt hat, da sie sich damals in Tokio aufhielt. Später besuchte sie zweimal das Katastrophengebiet, drehte Videos und machte Fotos.

Über die Verwendung von Kohle hinaus bildet seitdem das Thema Energie einen Schwerpunkt in der künstlerischen Arbeit von Kawabe. Ihre Kohle-Installationen sind temporär, denn die aus schwarzem Staub bestehenden Bodenarbeiten werden nach Ende der Ausstellungszeit zusammenfegt und verschwinden, existieren nur noch auf fotografischen Dokumentationen. Das von der Künstlerin mühsam mittels einer Kaffeemühle hergestellte Kohlepulver wird durch die Maschen von Spitzengardinen gestreut und nicht fixiert. Die Figuren, Ornamente, Zeichen und Linien, die sich auf dem Boden bilden, sind das Negativ der wie eine Schablone verwendeten Gardinen.

Kohle ist ein “Urstoff”, welcher Tausende von Jahren unter der Erde lag und entstanden ist durch Pressung von Bäumen und Pflanzen, deren Lebensquelle Licht war. Kohle ist lichtlos, ist ein stumpf und tot wirkendes Zeugnis ehemals üppiger Vegetation. Die von Kawabe auf den Grund gestreuten Formen bilden häufig wiederum Pflanzen ab, so, als ob die Künstlerin der Kohle ihr ursprüngliches Aussehen für einen Moment lang zurückgeben will. Die Kohle-Installationen sind zudem ortsspezifisch und nehmen jeweils Bezug auf Bau- und Beleuchtungsbedingungen des Ausstellungsraums. Bei der Wahl des Materials Kohle spielt übrigens ein biografischer Hintergrund eine Rolle, erwähnt sei, dass der Großvater von Kawabe als Ingenieur im Bergbau tätig war.

Mit den anderen hier gezeigten Kohle-Arbeiten, bei denen der schwarze Staub auf Glas fixiert ist und in schräg gehängten, einzelnen Rahmen eine durchgehend horizontale Linie bildet, nimmt die Künstlerin ebenfalls Bezug auf eigene Geschichte und darüber hinaus: Die Erfahrung des Reisens zwischen den Kulturen rückt den Horizont als Metapher von Grenzen und deren Überschreitungen in den Fokus der Arbeit von Kawabe als Schnittstelle, als Beschränkung und Möglichkeit. Hinter dem Horizont geht’s weiter – hinter ihm lauert die Bedrohung. Die Linie zwischen Land oder Wasser und Himmel symbolisiert das Gefährliche ebenso wie sie Sehnsüchte weckt (vgl. Waltraud Brodersen, in: Kat. Ausst. Naho Kawabe. Observer Effect, Berlin 2013). Damit stellt sich die erste bildhafte Verbindung zum Ausstellungstitel “delikatelinien” ein, denn das Delikate ist nicht nur etwas Appetitliches, Feines, sondern auch etwas Zerbrechliches, Heikles, möglicherweise Scheiterndes – in der Diplomatie existiert der Ausdruck “unterwegs sein in einer delikaten Mission”.

Das Erleben verschiedener Kulturen hat zudem das Interesse Kawabes am Thema beschränkender Grenze und überwindender Bewegung geschärft – und zwar auf mehreren Ebenen: Aus dem wiederum “armen Material” Farbkarton schneidet die Künstlerin Flugrouten diverser Wandervogelarten aus und hängt die farbig unterschiedlichen Umrisse übereinander auf eine Nadel, so dass ein komplexes Geflecht von bunten Linien entsteht, die keine Richtung oder Priorität evozieren. Eine weitere ähnlich angelegte Arbeit zeichnet in farbigen Scherenschnitten die Konturen aller Ländergrenzen auf dem afrikanischen Kontinent nach. Während die Vogelflugrouten mit ihren spielerisch rundfließenden Linien Grenzenlosigkeit des Fliegens und beliebigen Fußfassens als Utopie assoziieren lassen, erscheinen die Silhouetten der afrikanischen Staaten häufig scharfkantig – entsprechend ihrer historisch oft willkürlich auf dem Reißbrett gezogenen Grenzverläufe. Bei der bewusst provisorischen Präsentation auf einer leicht in die Wand gesteckten Nadel bleiben die Flug- und Grenzlinien aus Karton austauschbar und wirken jeweils äußerst fragil.

Schon im Jahr 2011 war Afrika Gegenstand einer künstlerisch-philosophischen Reflexion Kawabes: Anhand einer originalen Fetischfigur des Mbete-Stammes aus Gabun, die wohl wie ein Alter Ego der Künstlerin zu verstehen ist, formuliert sie in einem Interview ihre Suche nach der Definition des Seins auf dieser Welt: “Die Figur in der Rauminstallation – “Why am I here” – habe ich extra gesucht (…) und gefunden in “Harry’s Hamburger Hafenbazar”. Die Situation dort ist ganz seltsam: Fetisch-Figuren aus verschiedenen mikrokosmischen Kulturräumen mit spezifischen auf den jeweiligen Ort bezogenen Funktionen, stehen beziehungslos zusammen (…). Die Stadt und der Bazar waren nicht ihr ursprünglicher Bestimmungsort. Was machen sie da? Wo kommen sie her? Wo geht’s hin? (…) Die Figur kommt irgendwann aus Afrika, reist per Schiff nach Hamburg und steht nun verloren, quasi ziellos, auf der Reeperbahn. (…). Auch dort steht sie nun in einer zunächst nicht erklärbaren Weise in einem anderen Kulturraum herum, wird zum unkategorisierten Objekt. Das Reisen und das Überschreiten von Grenzen, wird auf einer ersten Ebene thematisiert (…). Wo sind wir letztlich in Raum und Zeit – oder: transportiert das Thema der Ortlosigkeit nicht über alle Gegenwart hinweg die Frage nach Existenz?” (Elena Winkel: Interview mit Naho Kawabe, in: Kat. Ausst. Index 11, Hamburg 2011, S. 48f)

Eine Kombination aus den Themen Horizont und Grenze zeigt eine gerade frisch aus der Siebdruckpresse gekommene Grafik, auf der eine bunte Wolke – wiederum geformt aus einigen Länderumrissen Afrikas -, über einem Foto Kawabes von der westlichsten Spitze Europas schwebt. Vom “Cabo da Roca” aus, in der Nähe Lissabons gelegen, reicht der Blick noch heute auf die Unendlichkeit des Atlantiks Richtung Amerika und Afrika, dorthin also, woher sich die Weltmacht Portugal ehemals ihren Reichtum saugte. Die zunächst fröhlich anmutende Farbwolke auf dem Siebdruck taucht über dem Horizont jedoch auf wie ein Menetekel. Laut biblischer Überlieferung wurden dem babylonischen König Belsazar während eines prächtigen Festes geheimnisvolle Worte an die Wand projiziert, die sein Lebensende und den Zusammenbruch seines Reiches ankündigen. Rembrandt hat 1635 aus dieser Geschichte ein berühmtes Gemälde geschaffen: Auf dem Werk “Das Gastmahl des Belsazar” (National Gallery, London) erscheint dem verblüfften Herrscher die böse, in einem Lichtkegel strahlende Botschaft. Das Bild des Menetekels nimmt Kawabe auf und wendet es zugleich: Ihre Lichtinstallation im ehemals Geheimnisse versteckenden und schützenden “Kryptoraum” der Ermekeilkaserne (die ja nach 1948 zum ersten Standort des bundesrepublikanischen Verteidigungsministeriums wurde) wirft mit den Schatten der an Fäden hängenden und angeleuchteten Kugeln den – hier als ironische Bezugnahme sehr passenden – Satz “einer muss wach sein” an die Wand, der sich auf eine Parabel von Franz Kafka bezieht. Der jüdische Schriftsteller hatte mit “Nachts” zehn Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieg 1924 in prägnanter Kürze – acht Sätze – die gesellschaftliche Situation der Weimarer Republik schlaglichtartig charakterisiert: Während die Menschen sich am Abend in ihrer Wohnung oder im Freien zur Ruhe legen und sich in Sicherheit wähnen, muss einer wach bleiben, um den Frieden zu schützen. Die letzten fünf Sätze des Textes von Kafka lauten: “Und Du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein.” (Kafka, Das Werk, Romane und Erzählungen, Frankfurt a.M. 2004, S. 906)

In einer weiteren Arbeit, “Wandermüde”, die vor kurzem im Marstall in Ahrensburg gezeigt wurde, hat sich Kawabe mit der Odyssee des Denkmals für den jüdisch-deutschen Schriftsteller Heinrich Heine beschäftigt, das, meist per Schiff, von Rom aus nach Korfu, nach Hamburg, nach Marseille und zuletzt nach Toulon geschleppt wurde. Ausgangspunkt der Beschäftigung Naho Kawabes mit deutscher Literatur und dem Schicksal ihrer Autoren waren Seminare an der Universität in Japan sowie eine Erzählung über Walter Benjamin und seine verschollene schwarze Aktentasche. Das hier gezeigte Video “Der Weg I” aus dem Jahr 2008 beschäftigt sich mit dem sogenannten “Chemin Benjamin” (vgl. Waltraud Brodersen, in: Kat. Ausst. Naho Kawabe. Observer Effect, Berlin 2013). Der Medientheoretiker und Philosoph flüchtete vor den Nationalsozialisten 1940 von Banyuls nach Port Bou und nahm dabei einen Schmugglerpfad über die Pyrenäen, der, noch heute, die Grenzlinie zwischen Frankreich und Spanien markiert. Benjamin und viele andere Flüchtende wurden von Hans und Lisa Fittko über diesen alten Weg durch die Weinfelder der östlichen Pyrenäenausläufer an der Mittelmeerküste geschleust, um quer durch Francos Spanien weiter nach Lissabon zu gelangen. Dort bestiegen die Exilanten Schiffe und retteten sich nach Casablanca, Shanghai, Havanna oder New York. Walter Benjamin jedoch beging Suizid als er in Port Bou ankam und erfahren musste, dass sein Transitvisum nicht anerkannt wurde. Das halbstündige Video zeigt den beschwerlichen Aufstieg in die Berge sowohl aus der Perspektive des Gehenden, der ständig nach unten blickt auf die steinigen Hindernisse, als auch aus der Tragehöhe der schwarzen Aktentasche, die Benjamin mit sich trug und wohl ein letztes umfangreiches Manusskript beherbergte. Kawabe hat die Kamera derart in der nach Gleichgewicht suchenden Hand gehalten, wie Benjamin sein gewichtiges Gepäck. Zugleich sind den unruhigen Aufnahmen Texte von Lisa Fittko und Benjamin unterlegt, die sich mit der Straße und dem Spazierengehen auseinandersetzen.

Zusammenfassend sei zum Schluss ein Absatz aus dem Buch “Ein Zeitalter wird besichtigt” von Heinrich Mann zitiert, der im Alter von sechzig Jahren ebenso den Weg über die Pyrenäen nehmen musste wie Walter Benjamin. Die ‚Erinnerungen’ von Mann an das frühe 20. Jahrhundert lassen Kawabes Vogelfluglinien, die weltweit grenzenlose Verteilung der Vogelpopulationen Europas und die Metapher des Horizonts als bildhafte, oft mit Humor und ironischer Distanz vorgetragene Visionen menschlichen Zusammenlebens erscheinen, von denen wir heute weit entfernt sind. Die Mahnung des Schriftstellers aus dem Jahr 1944 kann aktueller nicht sein: “Das kriminelle Zeitalter hat lange sich selbst nicht geahnt. Es war wohlerzogen, es betrachtete die Schonung jedes einzelnen, nicht seine Überspannung und Gefährdung, als das Richtige. Normal fand es das Vertrauen in Menschen, anstatt sie für verdächtig anzusehen. Es klingt sonderbar und unglaubwürdig, aber durch Europa reiste man ohne Pass. Man benötigte keines Ausweises, um Geld zu erheben. Wer in mehreren Ländern zu Haus war und ohne ständige Wohnung war, bemerkte nie eine Behörde, besonders keine, die ihren Zoll verlangte” (Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, Frankfurt a.M. 1988, S. 190).

Überflüssig zu sagen, dass die Idee von “moving locations”, zu diesem Zeitpunkt eine Schau mit Naho Kawabes Arbeiten in den Räumen der Bonner, zur Auffangstation von Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afrika umgerüsteten Kaserne zu platzieren, eine zündende war. Ich wünsche der Ausstellung viele Besucher und Besucherinnen.

Sachiko Shoji: Text aus dem Ausstellungskatalog “In Search of Critical Imagination”

Video kann beliebig viele Lügen erzählen. Und es kann auch unerwartet die Wahrheit einfangen. Wenn man dies versteht, wird der Grad der Unsicherheit in dem, was wir sehen, ebenso deutlich wie die Mehrdeutigkeit unserer Wahrnehmungen und Erinnerungen. Im Werk von Naho Kawabe, einer Künstlerin, die mit Videos zu arbeiten begonnen hat, haben wir manchmal das Gefühl, dass es keine Grenze zwischen Wahrheit und Lüge gibt.

In Kawabes Videoarbeit „Sugarhouse“ aus dem Jahr 2004 beispielsweise ist das erste, was wir sehen, ein vollständig weißer Bildschirm, der nichts zu enthalten scheint. Aber nachdem rotes Wasser in den Raum gegossen wurde, werden die Formen, die tatsächlich da sind, allmählich deutlich. Gerade als wir beginnen, das Gesamtbild zu erfassen, löst sich ein Haus aus Zuckerwürfeln allmählich in dem roten Wasser auf. Laut Kawabe “ist es eine Art Vandalismus, etwas Unsichtbares in etwas Sichtbares zu verwandeln, und unser Blick ist mit der Gefahr behaftet, das Thema zu verändern”. Kawabe deutet hier die Gewalttätigkeit eines Blicks an, aber wenn wir uns überlegen, warum die Dinge, die zusammengebrochen sind, überhaupt da waren, erkennen wir, dass das Werk auch das japanische Familiensystem in Frage stellt. „Wash Your Blues“ (2007) ist eine vierminütige Videoarbeit, die das stereotypem Tierverhalten eines Eisbären im Zoo zeigt. . In Anlehnung an das Schlagwort für das amerikanische Antidepressivum Prozac, “Wash Your Blues Away”, zeigt die Arbeit den Bären in ständiger Auf- und Abwärtsbewegung, während die umgebende Wasserlache allmählich von blau nach weiß gebleicht wird. Für den Bären könnte die Szene einer liebevoll erinnerten Landschaft ähneln. Während die Arbeit die dunkle Seite einer lebenslangen Bildungseinrichtung wie eines Zoos suggeriert, könnte die Welt, wenn wir uns in die Lage des Bären versetzen, einerseits blendend erscheinen, nachdem der Blues (die Depression) verschwunden ist, andererseits aber auch leer und eintönig erscheinen.

Kawabes Werke enthalten einen Mechanismus, der unsere Sehkraft und unser Gedächtnis stört. Es handelt sich dabei nicht einfach um eine Falle, die uns verwirrt, sondern um etwas, das notwendig ist, um uns zu konfrontieren und uns die geschäftigen Empfindungen wahrnehmen zu lassen, die sich im gewöhnlichen Leben verbergen. Kawabe hat diesen Trick während ihrer gesamten Karriere in ihren Videos, Installationen und Kunstobjekten gekonnt eingesetzt. Zum Beispiel in der Installation „Cosmic But Unfair #2“, die 2011 in der Shiseido Gallery gezeigt wird, führt ein Gerät, das unsere Augen täuscht, dazu, dass wir uns zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren hin und her bewegen. Der Ansatz ist in beiden Werken Kawabes mit und ohne Lichtquelle derselbe. Für das 2012 entstandene Werk We Are the Strangers! schnitt die Künstlerin zahlreiche Erwähnungen des Ich-Personen-Pronomens “I” aus einer englischen Ausgabe von Albert Camus’ Roman Der Fremde aus und verband sie mit einem Faden miteinander. Losgelöst vom Kontext schweben alle diese “Ichs” frei. Obwohl sich die meisten von ihnen wahrscheinlich auf den Protagonisten des Romans, Meursault, beziehen, regen sie uns an, über das “Ich” und das “Wir” nachzudenken, während sie sich auf die Gesellschaft mit ihren gelegentlich wechselnden Aspekten beziehen.

„Optiker“, der im Gussbetonlager des Museums ausgestellt ist, entwickelte sich aus Kawabes Einsatz von Kugeln, der 2011 begann. Die kleinen hängenden Kugeln werden mit zwei Scheinwerfern in verschiedenen Farben beleuchtet. Die Kugeln erinnern an Wolken, Atomstrukturen, Himmelskörper im Raum oder vielleicht sogar an Menschen, und aus nur einer Richtung sehen ihre Schatten wie Buchstaben aus, die an die Wand projiziert werden. Die Neige des Menschen bezieht sich auf einen Satz aus Walter Benjamins Einbahnstraße, in dem der Schriftsteller die Blicke mit menschlichen Überresten vergleicht. Dies deutet sowohl auf unsere eigene Erfahrung beim Betrachten des Werkes als auch auf eine zynische Sicht des menschlichen Blicks hin, der niemals neutral sein kann, wenn es darum geht, Buchstaben zu erfassen oder Schatten wahrzunehmen. Selbst wenn eine Person eine Sprache sieht, die sie nicht kennt, kann sie die Punktfolge als Schrift identifizieren. Dies wirft die Frage auf, was das Schreiben vom Nichtschreiben unterscheidet. Obwohl unsichtbar, erkennen wir die Existenz dieser “Grenze” oder “Linie”, die von sich aus existiert. Kawabe drehte ihre einzige Videoarbeit in dieser Ausstellung, „Pendule des Pyrénées (Pendel der Pyrenäen)“, indem sie ihre Kamera in der Nähe der Grenze zwischen den spanischen und französischen Pyrenäen aufstellte, den Bergen, die Benjamin zu besteigen versuchte, um am Ende seines Lebens die Grenze nach Spanien zu überqueren. Obwohl es keine sichtbare Trennung oder Veränderung der Landschaft zwischen den beiden Ländern gibt, hatte die Linie die Macht, Menschen zu behindern und ihr Leben völlig zu verändern. Andere Werke wie “Horizon Never Lurches”, das der Form eines Spitzenvorhangs nachempfunden ist und mit zerstoßenem Kohlestaub hergestellt wurde, und “Flowers and Borders” werfen ebenfalls Fragen zu Grenzlinien auf.

Schließlich ist “Expurgation” ein Werk, das sich aus Seiten zusammensetzt, die aus verschiedenen Büchern entfernt wurden und in denen Buchstaben und Diagramme mit Isolierband überklebt sind. Angesichts der jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit der Bedrohung durch verborgene Informationen, die wie ein Rückfall in eine frühere Ära erscheint, verwendet Kawabe eine physikalische Technik, um zu fragen, warum Schrift, die existieren sollte, unsichtbar geworden ist. Das dünne Papier unter der Schrift, das in Metall versiegelt ist, erzeugt ein zusätzliches Gefühl von Gewicht und Vorzeichen. Im starken Licht hell leuchtend, durchdringt das Werk unsere Augen und fragt, was wir sehen können und was nicht, und wer wir sind.

in: In Search of Critical Imagination, Fukuoka Art Museum, 2014

Ludwig Seyfarth: Wie Blätter im Wind. Die Ruinen im Werk von Naho Kawabe

(…)

Die letzte große Naturkatastrophe in Japan war bekanntlich ein Tsunami, dem auch ein Atomkraftwerk nicht standhalten konnte. Im März 2012 fotografierte Naho Kawabe viele beschädigte oder weitgehend zerstörte Einzelhäuser in der vom Tsunami betroffenen Präfektur Miyagi. Wüsste man nicht, wie die Gebäude in diesen Zustand geraten sind, würde man, anders als die klassischen Ruinenbetrachter, sofort danach fragen. Und genauso danach, was mit ihnen geschehen wird: Werden diese Häuser wieder instandgesetzt oder abgerissen und durch neue ersetzt werden? Die Fotos dienten der Vorbereitung eines im September 2012 in Miyagi gedrehten Videofilms, bei dem die Kamera aus dem Auto heraus langsam und gleichmäßig die Reste einer fast vollständig zerstörten kleinen Hafenstadt einfängt. Nur noch einzelne Häuser stehen, die Reste anderer sind schon vollständig weggeräumt worden. Auf den Brachflächen dazwischen, auf denen die Fotografien nur Staub, Sand und herumliegenden Müll zeigten, sind einige Monate später schon zahlreiche sprießende Pflanzen sichtbar. Wasser dringt von unten an die Erdoberfläche durch. Die Natur holt sich das freigewordene Terrain zurück.

Naho Kawabe interessiert sich für die teilweise unscheinbaren Prozesse, langsamen Veränderungen, die in einem sowohl physischen wie auch zeitlichen Kontrast zur massiven Wucht der Katastrophe stehen. Und Kawabe fängt ein, was in wenigen Jahren vielleicht völlig verschwunden sein wird. Auch was die Gebäude betrifft, richtet sie den Blick nicht auf repräsentative und Monumentalbauten, sondern auf schlichte Ein- und Mehrfamilienhäuser. Eine Leere, die völlig neu bebaut werden kann, ist stets eine Faszination für viele Architekten. (…)

Aber eine Neubebauung kann auch so aussehen, dass von der Vergangenheit nichts mehr erkennbar übrig bleibt. 2008, als man den 50. Jahrestag seiner Neuerrichtung feierte, besuchte Naho Kawabe den französischen Badeort Royan, der im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört worden war. Das wie ein Disneyland wirkende Ambiente Royans hatte Jacques Tati zu seinem Film „Mon Oncle“ (1958) inspiriert, einer Satire auf den architektonischen Modernismus und die Absurdität eines vollkommen durchtechnisierten Alltags. Die Wohnhäuser, Villen und Hotels, die Naho Kawabe in ihrer Fotoserie „The Palms of Royan“ ins Bild setzt, machen tatsächlich den Eindruck, als ob sie Teile einer gigantischen Filmkulisse wären. Die Abwesenheit von Menschen lässt zudem die Vermutung aufkommen, dass es sich nicht um Häuser in realer Größe, sondern um verkleinerte Modelle handelt. Darin liegt auch ein Bezug zu den Häusern aus Miyagi, die ebenfalls so fotografiert sind, dass wir allein aus der Betrachtung der Bilder kaum ausmachen können, ob sie echte Zerstörung zeigen oder nur das Modell einer Simulation von Tsunamischäden.

Naho Kawabe zeigt uns die Welt gleichsam in einem anderen Aggregatzustand: nicht in ihrer physischen Festigkeit, sondern im Transitorischen, Flüchtigen, was sich auch in der Vorliebe für Materialien wie zum Beispiel Kohlestaub ausdrückt. Die Ruine ist nicht nur Anlass für die Meditation über die Vergangenheit oder die Vergänglichkeit schlechthin, sondern Ausdruck des Transitorischen, des Überganges von einem Zustand in einen anderen. Sie ist nicht das Bleibende im ewigen Kreislauf des Vergehens, sondern selbst etwas Flüchtiges, das verschwinden wird. So realisiert Naho Kawabe das Motiv des Hauses und der Ruine auch immer wieder in ephemeren Materialien, so etwa auf einer 2006 entstandenen, panoramatischen Kohlezeichnung oder in dem kurzen Video „Sugarhouse“ von 2004. Hier löst sich das Haus innerhalb von vier Minuten auf.

Ist die klassische europäische Ruine eine Silhouette, die sich vor dem Himmel wie ein Mahnmal abhebt, so ist die Ruine, wie sie im Werk von Naho Kawabe erscheint, eine flüchtige Spur, ein kalligrafisches Zeichen, das kurzfristig erscheint und dann wieder verschwindet, fortgetragen wie Blätter im Wind.

in: Naho Kawabe. Observer Effect, Berlin 2013

Belinda Grace Gardner: Licht- und Schattenspiele. Der Flüchtigkeit Gestalt geben: Naho Kawabes Sichtbarmachung des Unsichtbaren

Wenn Sonnenstrahlen seitlich durch das Muster einer Spitzengardine fallen, verdichten sich die Lücken im Gewebe für einen Moment zu einem anmutigen Schattenbild. Die filigrane Struktur gewinnt darin an visueller Substanz. Stilisierte Blüten zeichnen sich als dunkle Negativumkehrungen auf Flächen, Wänden, dem Boden ab: ein flirrender Reflex des Lichts, der sich zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Konkretisierung und Auflösung manifestiert. Diese Situation hat die japanische, in Hamburg lebende Künstlerin Naho Kawabe zu einer offenen, weiterhin im Entstehen befindliche Serie von fragilen Bodenarbeiten inspiriert. Bei ihren Umdeutungen des flüchtigen Schattenspiels werden die ornamentalen Strukturen von Vorhängen in nicht minder ephemerer Wiedergabe mittels Kohlestaub nachgezeichnet. Durchlässige Draperien aus Second-Hand-Läden, die Naho Kawabe über Jahre hinweg gesammelt hat, fungieren dabei als Schablonen. Durch diese lässt sie den Kohlestaub sachte hindurchrieseln. Wie schwarzer Schnee oder Blütenstaub setzt sich der puderige Werkstoff in den Leerstellen des Materials ab und hinterlässt auf dem Untergrund schnörkelreiche florale Umrisse. Ein Windhauch könnte das Bild sogleich verwischen und verfliegen lassen. Doch hat es für die Laufzeit einer Ausstellung oder im fotografischen Dokument, in dem es darüber hinaus eingefangen wird, Bestand(…).

Grundsätzlich verwendet Naho Kawabe als Vorlagen für die zarten Kohleabdrucke textile Massenware, die „eher hässlich, kitschig und von minderer Qualität“ ist, aber mittels ästhetischer Übersetzung, Verwandlung und Sublimierung – die Künstlerin spricht treffend von einem „Stoff-Wechsel“ –, zu geheimnisvollen (Traum-)Visionen mutiert: ein Effekt, den die spezifische Beleuchtung der Arbeiten durch natürliches oder indirektes Kunst-Licht noch unterstreicht, das die Motive teils wie selbsttätig von innen heraus zum Strahlen bringt. Das immaterielle Phänomen des Lichts, durch das überhaupt erst Sehen und das Erkennen der sichtbaren, objekthaften Wirklichkeit möglich ist, wird in den aus Kohlestaub generierten Schattenbildern gleichsam dingfest gemacht und simultan in seiner Ungreifbarkeit thematisiert(…).

Tatsächlich weisen die ätherischen, schwarzweißen Negativbilder der Kohlearbeiten auch optische Parallelen zum Medium Film, oder genauer: zur Fotografie auf. Naho Kawabes feinstoffliche Adaptionen des beiläufigen Schattenspiels eines Vorhangmusters auf einer Wand sind wie Momentaufnahmen kurzzeitig in Erscheinung tretender „Spuren der Begegnung mit dem Licht“. Roland Barthes hat die Fotografie als ein „durch die Wirkung des Lichts enthülltes, ‚hervorgetretenes’, ‚aufgegangenes’, (wie der Saft einer Zitrone) ‚ausgedrücktes’ Bild“ und als „Emanation des vergangenen Wirklichen“ definiert, das dem Flüchtigen, längst Abwesenden Dauer verleihe. Das Ephemere ist der Fotografie, wie Barthes sie nennt, „ein vom Wirklichen abgeriebenes Bild“, somit auf essenzielle Weise eingeschrieben. Dieser Idee eines „vom Wirklichen abgeriebenen“ Bildes gibt die Künstlerin in ihren von Licht kündenden Schattenbildern aus Kohlestaub subtile haptische Gestalt. Sie stellt darin aber auch immer implizit die Frage nach der Beständigkeit und Verbindlichkeit dieser Realität. In ihren potenziell flüchtigen Kohleabdrucken, in denen die Lücken in der Textur des ornamentalen Gewebes zur Abbildung kommen, geht es nicht zuletzt um die „Sichtbarmachung des Unsichtbaren“: ein ästhetisches Leitmotiv, das sich durch ihr zwischen Licht und Schatten changierendes Werk hindurch zieht.Belinda Grace Gardner: Licht- und Schattenspiele.Der Flüchtigkeit Gestalt geben: Naho Kawabes Sichtbarmachung des Unsichtbaren

in: Naho Kawabe. Observer Effect, Berlin 2013, p 15-24.